andrea bertschi-kaufmann, literarische bildung„Bildung ist ein Menschenrecht. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen eine kulturelle Identität entwickeln, an der Gesellschaft teilhaben und ihre persönlichen Anlagen und Fähigkeiten entfalten können. Sprache und Bildung sind dabei eng miteinander verwoben. Zu einer umfassenden Bildung gehört der Zugang zur Literatur deshalb unbedingt dazu. Sie ist nicht nur Nahrung für die Fantasie, sondern sie zeigt auch mit vielerlei Gestaltungen, wie sich Ausgedachtes und Erfahrenes zur Sprache bringen oder in Bildern vermitteln lassen.“ (S. 6)

Literarische Bildung eröffnet die Welt der Fantasie und zeigt, welche Möglichkeiten es gibt, Erfahrenes oder Ausgedachtes sprachlich zu artikulieren. Es gehört somit zu den zentralen Aufgaben der Schule, literarisches Wissen zu vermitteln und damit die Schülerinnen und Schüler auch bei der Bewältigung ihrer geistigen und seelischen Entwicklung zu fördern. Das vorliegende Sachbuch zeigt Konzepte und Umsetzungsmöglichkeiten der Literaturvermittlung im Unterricht der Sekundarstufe I auf.

eleonore weber, die bäume am abhangWenn sich die Menschheit klimatisch beschleunigt dem Ende zuneigt, so ist es durchaus an der Zeit, das Literaturprogramm darauf einzustellen und Genres zu benützen, die dieser besonderen Zeit entsprechen.

Eleonore Weber greift auf einen unauffälligen Satz aus der ersten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke zurück, um eine Gedichtkette auszulösen, die elegisch wirkt, ohne eine Elegie zu sein. – „Es bleibt uns vielleicht irgendein Baum am Abhang, dass wir ihn täglich wiedersehen“.

gerald murnane, inlandZwischen Ungarn, South Dakota und Australien liegt Gras. Im Gras wird das Einfache komplex und das Komplexe einfach. Wann immer Helden vom Schreibtisch aufschauen und hinausblicken ins Freie, sehen sie Gras. Der vollkommene Roman besteht aus Gras.

Gerald Murnanes „Inland“ duckt sich vor der Bezeichnung Roman, weil er sonst perfekt wäre. Und wie perfekt „Inland“ ist, zeigt eine Nachbemerkung, wonach der Autor ein Vierteljahrhundert nach dem Entstehen 1988 alles noch einmal durchliest und feststellt: Es ist alles ausreichend erklärt und mannigfaltig genug dargestellt. Wenn etwas nicht verstanden wird, liegt es am Leser.

tomaz salamun, steine aus dem himmelGedichte sind das Ringen um das, was Gedichte sind. Dabei sind diese vielleicht nur Steine aus dem Himmel.

Tomaž Šalamun ringt ein Leben lang um diese logischen Fügungen, die in einfachen Sätzen darstellen, was niemals einfach gesagt werden darf. Verwegen schickt er sein lyrisches Ich zwischen die Zeilen, um Unruhe durch Einfachheit auszulösen.

martin schwietzke, der hundeausführroboterausführhundIm Zeitalter von Hashtag-Überschriften ist es durchaus üblich, den Plot einer Nachricht in ein zusammengepresstes ZIP-Wort zu verpacken. Die deutsche Sprache neigt ohnehin zu Wortverpressungen, man denke nur an die Lust diverser Regierungen, ein Gesetz in Wortmonster zu verpacken und als „Gute-Kita-Gesetz“ zu beschließen.

Martin Schwietzke greift dieses Stilmittel auf und versieht neben der Haupterzählung auch den gesamten Erzählband damit. Durchgehendes Thema der neun Geschichten ist die Überlegung, dass die besten Erzähl-Champignons auf dem lockeren Nährsubstrat der bisherigen Literaturgeschichte wachsen. Eine gute Geschichte fußt meist auf dem Mist einer anderen guten Geschichte und ist upgedatet, aktualisiert und für den modischen Gendergebrauch umgemodelt.

simon konttas, trautes heimNichts ist literarisch so schwer zu handeln wie das, was alltäglich auf dem Erlebnis-Teller liegt und als normal gilt. „Das traute Heim“ streckt als pure Formulierung sofort die semantischen Greifarme aus und lullt jene ein, die an der Oberfläche dieses Bildes bleiben.

Simon Konntas nennt seinen raffinierten Roman über die Glücksvorstellungen einer angehenden Malerin ungeschützt „Trautes Heim“. Damit spricht er die Lesenden unverblümt an, damit sie selbst die Glücksvorstellungen abrufen, die sich seit Kindheitstagen in der Spielecke der schönen Seele aufgestaut haben, ehe er mit einem schlichten Plot die gängigen Muster aus dem Lot bringt.

hannes vyoral, ostinatoUnter Tagebuch versteht man einerseits den Hinweis auf die Ausdauer chronologischen Schreibens, andererseits ist es ein literarisches Genre, das durchaus mit einer solitären Bedeutung unterlegt sein kann.

Hannes Vyoral überschreibt sein Tagebuch rund um den Beginn der 2020er Jahre mit „Ostinato“, womit musikalisch eine Figur gemeint ist, die sich ständig wiederholt. Im Literaturbetrieb wird Ostinato manchmal als letztes Kapitel einer Biographie verwendet, um auf den Kreislauf einer Entwicklung jenseits des Linearen hinzuweisen.

Bei Hannes Vyoral „dreht“ sich im Ostinato alles um den Verlauf des Jahres, und wenn das eine Jahr vorbei ist, kommt das nächste, überraschend gleich ausgeprägt und dennoch völlig anders.

sirka elspaß, ich föhne mir meine wimpernDer stärkste Satz eines Gedichtbandes ist meist der Titel. Nicht nur dass er im Bibliothekswesen ständig zitiert wird, denn die Ordnung in der Bibliothek geschieht durch Zitieren, oft drängt sich so ein Titel auch ins Langzeitgedächtnis vor und nistet als Gassenhauer.

Sirka Elspaß überschreibt ihren Gedichtband mit dem fröhlichen Selbstkommentar „ich föhne mir meine wimpern“. Darin ist mustergültig zum Ausdruck gebracht, was Lyrik an einem unauffälligen Tag auszulösen vermag. Es geht um den „lyrischen Höhepunkt“, an dem der berüchtigte Vogelschnabel das Ei durchstößt, oder ein Airbag aufgeht, um eine Lenker-Biographie zu verändern.

reinhard wegerth, fast unglaublichDie Literatur hat ja eine doppelte Aufgabe, was die Glaubwürdigkeit betrifft. Einerseits muss sie etwas schier Undenkbares wahr machen, indem es als Literatur erzählt wird, und andererseits führt sie zum Kopfschütteln, wenn das eingepasste Weltbild des Lesers durch Abweichung von der Erzählnorm zum Vibrieren gebracht wird. – Historiker sagen nicht umsonst, dass es keine erzählte Geschichte gibt, die nicht aus der „getätigten Geschichte“ resultiert oder diese induziert.

Reinhard Wegerth nimmt für seine wahren Geschichten einen „fast unglaublichen“ Standpunkt ein. Er lässt fünfzehn Episoden der jüngeren Geschichte Österreichs Revue passieren, indem er die beteiligten Gegenstände zu Helden macht. Seine Überlegung ist raffiniert: Wenn schon die Geschichte sich gewisser handelnder Personen bedient, um daraus Helden oder Unglücksraben zu machen, dann könnte man die beteiligten Gegenstände ebenfalls heroisch aufwerten und ihnen eine Stimme zukommen lassen, wie ja auch bei Kriminalfällen oft Gegenstände aus der Asservatenkammer geholt und während eines Prozesses befragt werden.

ludwig hartinger, leerzeichenDer klassische Beruf eines Lektors bringt es mit sich, dass die Kunst des Lektorats oft höher eingeschätzt wird als die Texte, die gerade lektoriert werden müssen. Lektoren „alten Schlages“ sind daher die wahren Sprachmeister im Literaturbetrieb und laufen den Tagesdichtern spielend den Rang ab, was Genauigkeit, Sensibilität und Relevanz betrifft.

So ist es kein Wunder, dass das sogenannte „Leerzeichen“ in Sprache und Text bei diesen Künstlern zu einem tragenden Element wird.

Ludwig Hartinger ist ein Meister des Leerzeichens, aus seiner Tätigkeit beim Lektorieren entwächst scheinbar nebenher eine eigene Kunstform: das dichterische Tagebuch.