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andrej platonow, tschewengurBin ich vielleicht Schriftsteller oder was? - Ein Funktionär mitten in der Steppe Russlands ist ganz verzweifelt, dass er den Sozialismus nicht nur organisieren, sondern auch noch erklären soll. (270)

Andrej Platonow stellt dem Funktionär den Schriftsteller nicht als Genossen an die Seite, sondern dieser hat mit der Beschreibung die Politik zu kontrollieren und voranzutreiben, wenn nicht gar alle in eine bessere Zukunft zu hetzen.

andreas unterweger, grungy nutsGrob umschrieben könnten Grungy Nuts ein Haufen voll dreckiger Nüsse sein, die man vielleicht sogar vom Boden aufgeklaubt hat und die wahrscheinlich weder nach Art noch nach Reifezustand sortiert sind. Ein ideales Bild für eine Erzählform, in der sich herbei-komponierter Zufall und ironische Absicht die Waage halten.

Andreas Unterweger betreibt einen ziemlichen Aufwand an ordnenden Maßnahmen, um das Diffuse, Schrundige, Schmuddelige seiner Erzählungen in eine Fasson zu kriegen. So sind die Erzählungen im ersten Überblick abgeschlossene Ereignisse mit einem festen Figuren-Set, aber bald einmal fransen diese Ereignisse aus und laufen über in die nächste Erzählung, die wie eine Auffang-Schüssel unter den vorhergehenden Text gestellt ist. Was in der einen Erzählung nicht Platz hat, läuft über und wird in der nächsten aufgefangen. Pathetisch könnte man vom Römischen Brunnen sprechen, wo das Wasser ja auch gleichzeitig steht und rinnt.

monika mader, raues leben, großes sterbenFür Germanisten ist nicht nur die Welt, sondern auch der Nutzen eines Buches überschaubar. Ein Buch wird in diesen Kreisen gelesen, um sich entweder prüfen zu lassen oder selber den nächstbesten zu prüfen. Diese Meister des Lektüre-TÜVs können es sich nur schwer vorstellen, dass man aus so gut wie jedem Buch einen Nutzen ziehen kann, wenn man sich nicht selber im Wege steht.

Das Tagebuch eines Feldkaplans mag auf den ersten Blick nicht leicht als Sinn-Quelle eingestuft werden, aber schon beim Anblättern der Vorwörter ist man überrascht, wie notwendig dieses Buch eigentlich ist.

thoger jensen, ludwigZwischen Musikalität und Logik entstehen oft beinahe soziologische Kräfte, welche die Helden herumstoßen wie Billardkugeln oder Noten von Johann Sebastian Bach.

Thoger Jensen hat mit „Ludwig“ einen knappen Roman komponiert, der die inneren Kräfte der Bachschen Inventionen freilegt und worin die Helden in großer Gelassenheit letztlich das Glück an sich gewähren lassen.

karl kollmann, die neuenbiedermenschen„Es geht in diesem Buch um eine Beschreibung der neuen Biedermenschen, der Postmaterialisten, jenes neuen »Juste Milieu«, das sich als fortschrittliche, weltoffene und vor allem tonangebende Großgruppe der gegenwärtigen Gesellschaft versteht.“ (S. 7)

Der Soziologe Karl Kollmann beschäftigt sich in seinem durchaus emotional verfassten und mit wenig verstecktem Ressentiment durchzogenen Sachbuch mit dem „linksliberalen Milieu“ das sich von der rebellischen „68er-Bewegung“ zur moralisierenden und tonangebenden identitätspolitischen Linken gewandelt hat.

albert ennemoser, dreimal totWie in einer Galerie sind sie ausgehängt als Sterbe-Parten des Alltags: Drei seltsame Geschichten! Sie sind wirklich Krimis der anderen Art, weil sie keine Zeit haben, sich mit Krimi-Ritualen herumzuschlagen.

Albert Ennemoser arbeitet seine Fälle ab wie Bilder, konzentriert, üppig und dennoch konzis. Er beschriftet seine Fälle auch kurz und bündig wie Illustrationen: Der Wohltäter. Der Kater. Der Fund. Die Geschichten wehen durch den Alltag als aufgelassene Spinnennetze. Dann kommt jeweils ein Erzähler ins Spiel und am Schluss ist die Sache raffiniert zu Ende gebracht, es kommt der Tod. Und dennoch endet „Dreimal tot“ völlig unspektakulär.

heinz d. heisl, wir haben leider diebe im HausDer gute Ton kann aus einer unangenehmen Situation etwas Verschmitzt-Leichtes machen und so alles zur Zufriedenheit auflösen. Wenn beispielsweise in einer Wohnanlage ständig die Zeitung geklaut wird, ist es ein lieblicher Klärungs-Versuch, wenn jemand an den Zeitungsausträger mit einem Pin-Up schreibt: „Wir haben leider Diebe im Haus.“

Heinz D. Heisl ist als Musiker und Poet ein Meister des guten Tons. In beiden Sparten geht es letztlich um die Atmosphäre, die in der Musik vielleicht kollektiv entsteht, in der Poesie oft ganz einsam im Wechselspiel zwischen Akteur und Situation. So wird die Dichtung letztlich etwas recht Einsames, worüber nur der Autor die letzte Auskunft geben kann.

daniela emminger, kafka mit flügelnIn der Literatur tauchen manchmal Länder auf wie bei einem Quiz. Dabei wird der Leser gefragt, was er schon weiß, ehe ihm der Roman dann eine neue Nuance des Länderwissens verschafft. Von Kirgisien kennt man in der Lese-Szene vielleicht Tschingis Aitmatow, und die User der Standard-Presse wissen am ehesten, dass dorthin die in Deutschland geklauten Autos verschoben werden, dass eine verdeckte Diktatur herrscht und unter den international tätigen Terroristen immer auch Kirgisen dabei sind.

Daniela Emmingers „Kafka mit Flügeln“ ist auf der ersten Ebene ein vollendeter Kirgisien-Roman mit Stoff, heldenhaften Figuren und elementaren Fragestellungen zu Kultur, Psyche und Wissenschaft. Auf der zweiten Ebene handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen fiktionalem Experiment und experimenteller Fiktion. Und drittens ist erzähltechnisch gesehen der Roman so etwas wie die Schilderung einer heroischen Metamorphose vom Ei über Raupe und Puppe hin zum Schmetterling.

dasa drndic, belladonnaDann kam sie. Die Rente. (366) - In einem echten Rentnerroman wird das Leben ordentlich umgekrempelt, und das Eintreffen der ersten greifbaren Rente in Scheinen und Münzen ist erotisch wie das erste Liebesabenteuer, und tiefgehend, wie das Probe-Liegen am Sterbebett.

Dasa Drndic ist während der Auslieferung der deutschen Übersetzung ihres Romans Belladonna verstorben. Das gibt diesem Roman, der ohnehin von Aufhören, Abklingen und Aussetzen berichtet, einen zusätzlichen Abschieds-Drive. Und wenn ein Leser dann noch zeitgleich mit der Hauptfigur die erste Rente erwartet, ist die Authentizität des ganzen Falles nicht mehr zu toppen.

mark z. danielewski, das hausKultbücher haben den Vorteil, dass man sie nicht zu lesen braucht. Es genügt meist ein leichtes Nicken und das Thema geht vorbei. Anders ist es hingegen mit Pionierbüchern, diese muss man fast lesen, wenn man die Entwicklung der Literatur verstehen will. Und dann weiß man bei diesen entscheidenden Scharnier-Büchern nie, wie man sie lesen soll, mit der Erfahrung der Vergangenheit oder dem Geist der Zukunft?

Mark Z. Danielewskis „Das Haus“ ist beides, Kult- und Pionierbuch, weshalb man es lesen muss, denn auch hier sticht der Ober (Pionier) den Unter (Kult).