Timothée de Fombelle, Tobie Lolness
„In diesem Augenblick hörte er sie. Und plötzlich überfiel ihn wieder die Angst. Sie waren zu viert. Drei Erwachsene und ein Kind. Das Kind hielt die Fackel, die ihnen leuchtete. »Er ist nicht weit, ich weiß, dass er nicht weit ist.« »Wir kriegen ihn. Auch er muss zahlen. Wie seine Eltern.«“ (S. 10)
Das Universum des dreizehnjährigen Tobie Lolness ist ein großer mächtiger Baum und er selbst nicht größer als anderthalb Millimeter. Als der mächtige und skrupellose Jo Mitch in den Wipfeln des Baumes die Macht an sich reißt, bricht für Tobie und seine Familie eine Welt zusammen.
Obwohl ein dunkler Schatten über Tobies Vergangenheit liegt, erfährt er bei seinen Eltern Sim und Maia Lolness eine unbeschwerte Kindheit. Mit seinem besten Freund Leo Blue erlebt er die spannendsten Abenteuer im Wald. Nicht weniger aufregend sind die Theorien seines Vaters Sim Lolness, dem größten Gelehrten, der alles in Frage stellt und erforscht und den Baum als lebendes Wesen betrachtet, der durch die Mienenarbeit des gefährlichen Unternehmers Jo Mitch gefährdet wird.
Mit geschickten Manipulationen und Intrigen gelingt es Jo Mitch, die Autorität des regierenden Baumrats zu untergraben und durch von ihm gelenkte Nachbarschaftskomitees zu ersetzen. Er lässt billige Siedlungen für Zuwanderer bauen und bringt die Bewohner in den Wipfeln zunehmend unter seine Kontrolle. Als Feindbild, auf den er den Hass der Bevölkerung lenkt, dienen ihm die sogenannten „Hautlosen“, die jenseits des Baumes leben.
Sim Lolness gerät mit seinen wissenschaftlichen Forschungen und seiner Kritik an Mitchs Tunnelarbeiten im Baum zunehmend unter Druck, sodass er sich gezwungen sieht, mit seiner Familie in die unteren Regionen zu fliehen. Dort lernt Tobie die lebensfrohe Elisha kennen, mit der er ihn bald mehr als nur Freundschaft verbindet.
Mit Hilfe einer List wird die Familie Lolness ein paar Jahre später in die Wipfel des Baumes zurückgelockt und festgenommen. Jo Mitch sucht nach zwei Gegenständen, von denen er glaubt, dass sie ihm zu absoluter Macht verhelfen.
„Wir geben euch jetzt fünf Minuten, um uns zwei Dinge auszuhändigen: den Stein und Balainas schwarzes Kästchen.“ (S. 246)
Geschickt verschafft Sim Lolness seinem Sohn Tobie eine Gelegenheit zur Flucht. Verfolgt von den Mitchs Schergen, macht sich dieser auf den Weg in die unteren Regionen des Baumes. Aber er will zurückkehren und seine Familie und alle unterdrückten Menschen aus der Diktatur von Jo Mitch befreien.
Timothée Fombelle lässt seine Geschichte in einer Miniaturwelt spielen, in der die Menschen nur ein paar Millimeter groß sind und ein Baum ein kleines Universum bedeutet. Aber auch dieses Universum ist lebendig und durch die Gier und das Machtstreben eines verbrecherischen Diktators gefährdet.
Mit viel Liebe fürs Detail erschafft der Autor eine eigene Welt, in der die unterschiedlichsten Charaktere das Wesen von Menschen widerspiegeln und erzählt mit epischer Geste den Kampf eines Jungen gegen eine dunkle Macht, für die Lebensfreude und Mitgefühl keine Bedeutung hat. Ein überaus empfehlenswertes, fesselndes und spannend zu lesendes Kinder- und Jugendabenteuer, das sich mit den großen Fantasy-Erzählungen der Gegenwart messen kann und ganz unaufdringlich zahlreiche Gegenwartsthemen literarisch anreißt.
Timothée de Fombelle, Tobie Lolness. Ein Leben in der Schwebe, Die Augen von Elisha, 2 Bde., ill. v. Francois Place, übers. v. Tobias Scheffel / Sabine Grebing [Orig. Titel: Tobie Lolness. La Vie suspendue / Tobie Lolness. Les Yeux d’Elisha], ab 10 Jahren
Hildesheim: Gerstenberg Verlag 2020, 784 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-8369-5660-4
Weiterführende Links:
Gerstenberg Verlag: Timothée de Fombelle, Tobie Lolness
Wikipedia: Timothée de Fombelle
Andreas Markt-Huter, 15-12-2020