Eva Ibbotson, Annika und der Stern von Kazan

Andreas Markt-Huter - 29.09.2025

Eva Ibbotson, Annika und der Stern von Kazan„Ellie war immer noch da, sie saß in der ersten Reihe, aber sie hielt etwas im Arm und sah ganz anders aus als sonst, völlig aufgelöst und über und über errötet … »Das hat jemand hiergelassen«, sagte sie. Sie schlug das Tuch zurück, und Sigrid beugte sich vor, um zu schauen. »Herr im Himmel!« Das Baby war noch sehr klein, nicht mehr als ein paar Tage alt, aber es war erstaunlich lebendig.“ (S. 9)

Die zwölfjährige Annika wird als zurückgelassenes Baby bei einer Bergwanderung von der Köchin Ellie in einem kleinen Kirchlein entdeckt. Ellie und das Hausmädchen Sigrid beschließen das Findelkind mitzunehmen und es in Wien den Nonnen im Kloster zu übergeben. Doch das Kloster steht unter Quarantäne und so kommt Annika in das Haus der drei Professoren.

Bei den Professoren handelt es sich um drei Geschwister. Der älteste der drei war Julius, ein Wissenschaftler und Geologe an der Universität, sein Bruder Emil, Kunsthistoriker und ihre Schwester Gertrud Professorin und Musikerin. Zunächst erlauben sie das Kind nur bis zum Ende der Quarantäne im Haus zu belassen. Während dieser Zeit wächst Ellie und Sigrid das Kind so sehr ans Herz, dass sie bereit wären ihre Stellung bei den vornehmen Geschwistern zu kündigen, um Annika nicht hergeben zu müssen. Aber auch die drei Professoren haben sich an das Baby gewöhnt und willigen ein, das Kind im Haus zu behalten.

Zwölf Jahre später sind alle glücklich wie lernbereit sich Annika zeigt und wie fleißig sie im Haushalt mithilft. Während sie mit den Nachbarkindern Pauline und Stefan befreundet ist, kann sie Loremarie Eckhart, die arrogante Nichte eines reichen Federbettenfabrikanten, nicht ausstehen. Zu ihrer Überraschung wird Annika von dieser eines Tages ganz freundlich begrüß. Sie bittet Annika ihre Aufgabe, sich um ihre totkranke Urgroßtante zu kümmern, zu übernehmen und sie dafür zu bezahlen.

Annika und die alte Dame verstehen sich von Anfang an und erzählen sich gegenseitig Geschichten aus ihrem Leben. Die Dame berichtet, wie sie als junges Mädchen mit einem alten Mann verheiratet werden sollte und nach Paris geflüchtet war, wo sie als Künstlerin unter dem Namen „La Rondine“ berühmt wurde. Sie lernte einen Mann und lebte mit ihm zehn Jahre lang in einem kleinen Haus in den Bergen bei Meran. Als er starb musste sie das Haus verlassen. Zum Glück wurde ihr in ihrer Zeit als Künstlerin viel Schmuck geschenkt, unter anderem ein Smaragdanhänger mit einem großen Stein, der als Stern von Kazan bezeichnet wurde.

Der Tod der alten Dame macht Annika sehr traurig bis zu ihrer Überraschung plötzlich Edeltraut von Tannenberg, eine adelige Dame aus Norddeutschland auftaucht, und sich als ihre Mutter zu erkennen gibt. Annika, die seit ihrer jüngsten Kindheit davon geträumt hat, dass ihre Mutter sie holen kommt, willigt ein, zu ihrer Mutter zu ziehen. Doch der anfänglichen Freude weicht rasch eine Ernüchterung, als sich das distanzierte Verhalten und kühlen die Umgangsformen der Verwandten eklatant von der Warmherzigkeit ihrer Pflegefamilie unterscheidet. Langsam beginnt sich zu entdecken, dass der wahre Grund für die Aufnahme in die neue Familie mit dem Stern von Kazan zusammenhängt, den die alte Dame ihr vermacht hat.

Eva Ibbotson gelingt es in ihrem Roman für Kinder und Jugendlich die Atmosphäre und das Flair einer vergangenen Zeit zum Leben zu erwecken, wobei sie nicht nur die romantischen und schönen Seiten der Vorkriegsepoche aufzeigt, sondern auch großen gesellschaftlichen Unterschieden zwischen den sozialen Klassen, Arm und Reich sowie Aristokratie und Dienerschaft.

Der überaus lesenswerte und spannende Roman der mit dem Thema Familie und Zugehörigkeit auseinandersetzt und zeigt, dass wahre Familie nicht durch Verwandtschaft, sondern durch Liebe, Treue und Zusammenhalt bestimmt wird. Ein überaus empfehlenswertes Kinderbuch, das durch seine ruhige Erzählkunst und fesselnde Sprache begeistert.

Eva Ibbotson, Annika und der Stern von Kazan. Übers. v. Sabine Ludwig [Orig. Titel: The Star of Kazan], ab 10 Jahren
Zürich: Atlantis Verlag 2025, 384 Seiten, 20,50 €, ISBN 978-3-7152-3019-1

 

Weiterführende Links:
Atlantis Verlag: Eva Ibbotson, Annika und der Stern von Kazan
Wikipedia: Eva Ibbotson
Wikipedia: Sabine Ludwig

 

Andreas Markt-Huter, 25-09-2025

Bibliographie
Autor/Autorin:
Eva Ibbotson
Buchtitel:
Annika und der Stern von Kazan
Originaltitel:
The Star of Kazan
Erscheinungsort:
Zürich
Erscheinungsjahr:
2025
Verlag:
Atlantis Verlag
Übersetzung:
Sabine Ludwig
Seitenzahl:
384
Preis in EUR:
20,50
ISBN:
978-3-7152-3019-1
Lesealter:
Altersangabe Verlag:
10
Zielgruppe:
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Eva Ibbotson wurde 1925 in Wien geboren und emigrierte 1933 nach England, wo sie bis zu ihrem Tod im Herbst 2010 lebte. Sie war eine bekannte Bestsellerautorin in der Erwachsenenliteratur. Ihre Kinderbücher sind weltweit beliebt und äußerst erfolgreich und wurden in Großbritannien mehrfach ausgezeichnet.

Sabine Ludwig ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie und arbeitete u.a. als Rundfunkredakteurin, bevor sie sich als Autorin und Übersetzerin selbstständig machte. Sabine Ludwig lebt in Berlin.