Christelle Dabos, Die Spur der Vertrauten

Andreas Markt-Huter - 27.12.2025

Christelle Dabos, Die Spur der Vertrauten„Flo wäre beinahe mein elftes Leben gewesen. Es war an einem Sommerabend mitten im Schuljahr, auf einer Brücke. Ich habe sie nie gefragt, warum sie springen wollte. Ich hätte sie zum Büro der Zählstelle schleifen können, sie verpfeifen, meinen letzten Punkt einsammeln und, wie vorgesehen, vor der Volljährigkeit ein Tugendhafter werden können. Aber ich hab’s bleiben lassen. In einer ganz auf den Wert des menschlichen Lebens aufgebauten Gesellschaft ist man mit dem Vermerk «selbstmordgefährdet» in seiner Akte das Allerletzte.“ (S. 32)

Die Geschichte spielt in einer dystopischen Welt, in welcher der Weg der Mitglieder der Gesellschaft vorbestimmt ist und in der nur das Kollektiv, das „Wir“ zählt. Alle Menschen weisen einen bestimmten Instinkt auf, der sie antreibt, permanent für das Allgemeinwohl sorgen zu wollen. Die soziale Ordnung wird bestimmt durch strenge Regeln, unterdrückte Individualität und vorgegebene Instinkte und Aufgaben, die erfüllt werden müssen.

Goliath besucht die Protektoratsschule und steht kurz vor seiner Volljährigkeit. Damit bleiben ihm nur noch 29 Tage, um ein letztes Leben zu retten und sein großes Ziel zu erreichen: die Stufe des Tugendhaften, die erste Stufe auf dem Weg zum Heiligen. Dazu muss er als Protektor aber mindestens 11 Leben gerettet haben. Doch das Leben eines Protektors ist gefährlich und seine bisherigen Rettungsversuche haben ihn bereits seine Arme gekostet, die durch künstliche Prothesen ersetzt worden sind.

Claire hingegen besucht die Schule der Vertrauten, deren Instinkt es ist, zuzuhören und Geheimnisse zu bewahren. Dabei müssen sie durch Kopfhörer und Musikhören die Alltagsgespräche von Menschen abwehren, um sich vor einer Reizüberflutung zu schützen. Ein Jahr zuvor ist Claire auf Goliath aufmerksam geworden, die in ihm eine ähnliche Einsamkeit wie in sich selbst zu erkennen glaubt.

Claire lädt Goliath zu einer Besprechung ins Lokal „Allerseelen“ ein, wo sie ihm in einer Privatkabine von Schülern berichtet, die aus ungeklärter Ursache von einem Tag auf den anderen verschwunden sind. Sie bittet Goliath ihr bei der Suche nach den „Unauffindbaren“ zu helfen. Goliath lehnt zunächst ab, weil es nicht in Claires Aufgabenbereich fällt und er die Bonuspunkte nicht mit ihr teilen will. Goliath, der mit seinen Nachforschungen allein nicht weiterkommt, ist schließlich doch bereit, sich mit Claire zusammen zu tun.

Währenddessen verlässt ein Engel, der bisher mindestens 101 Leben gerettet hat, die 43. Etage des Wolkenkratzers der „Erhabenen des Westens“, um einen schrecklichen Auftrag zu erfüllen. In einem Vorort des Westsektors spürt er einen Jugendlichen auf, der an einer Bombe bastelt, und erschießt ihn. Nach seiner Rückkehr wird er zum Erzengel befördert und in die 51. Etage übersiedelt.

Claire und Goliath geraten mit ihrer Suche nach den verschwundenen Schülern immer tiefer in einen gefährlichen Konflikt mit dem Gesellschaftssystem und beginnen nach und nach die scheinbar perfekte Ordnung zu hinterfragen.

Christelle Dabos zeichnet ein dystopisches Gesellschaftssystem, in dem das Individuum keine Bedeutung hat und jeder auf dem ihm zugewiesenen Platz funktionieren soll. Doch hinter der scheinbar perfekt abgestimmten Ordnung, die eine perfekte und harmonische Gesellschaft verspricht, verbergen sich Kräfte, die vor den Menschen verborgen bleiben.

Der überaus empfehlenswerte, spannend erzählte Jugendroman thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv ebenso wie die Frage nach der eigenen Identität, nach der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft und der Zivilcourage, um sich gegen Missstände und Unterdrückung zu erheben. Die starken Protagonisten und die außergewöhnliche Handlung, die an Aldoux Huxleys „Brave New World“ erinnert, wirft viele Fragen über gesellschaftliches Zusammenleben auf und regt zu spannenden Diskussionen an.

Christelle Dabos, Die Spur der Vertrauten. Übers. v. Amelie Thoma / Nadine Püschel [Orig. Titel: Nous], ab 14 Jahren
Frankfurt a. Main: Rotfuchs Verlag 2025, 640 Seiten, 23,60 €, ISBN 978-3-7571-0222-7

 

Weiterführende Links:
Rotfuchs Verlag: Christelle Dabos, Die Spur der Vertrauten
https://en.wikipedia.org/wiki/Christelle_DabosWikipedia: Christelle Dabos (engl.)
Homepage: Amelie Thoma

 

Andreas Markt-Huter, 08-10-2025

Bibliographie
Autor/Autorin:
Christelle Dabos
Buchtitel:
Die Spur der Vertrauten
Originaltitel:
Nous
Erscheinungsort:
Frankfurt a. Main
Erscheinungsjahr:
2025
Verlag:
Rotfuchs Verlag
Übersetzung:
Amelie Thoma / Nadine Püschel
Seitenzahl:
640
Preis in EUR:
23,60
ISBN:
978-3-7571-0222-7
Lesealter:
Altersangabe Verlag:
14
Zielgruppe:
Kurzbiographie Autor/Autorin:
Christelle Dabos wurde an der Côte d'Azur geboren und wuchs in einem Zuhause mit viel klassischer Musik auf. Ihre Debütreihe „Die Spiegelreisende“ wurde in Frankreich mehr als eine Million Bücher verkauft und in mehr als zehn Sprachen übersetzt. Christelle Dabos lebt heute in Belgien.

Amelie Thoma studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und war viele Jahre lang Lektorin, ehe sie sich als Übersetzerin von Literatur aus dem Französischen und Italienischen selbständig machte.

Nadine Püschel wurde in Starnberg geboren und studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Seit 2004 lebt und arbeitet sie als Übersetzerin für Englisch und Französisch in Berlin.