Sprachminiaturen sind treffsichere abgerundete Fügungen, die sich wie Gebilde mit Widerhaken auf dem Filz des Alltags festsetzen.

Rudolf Kraus setzt mit dieser feinen additiven Methode, wo überraschende Wendungen wie Magnetsteine auf die Fläche gesetzt werden, durchaus großen Themen zu wie dem Tod. Nicht nur das nicht Voraussehbare, „wie wird denn wohl mein Tod ausschauen?“, spielt eine Rolle, sondern manche Ereignisse spitzen sich schon zu Lebzeiten so dramatisch zu, dass ihnen der Tod den Deckel drauf setzen muss. So kümmern sich die Sprachminiaturen nicht nur um die Ars moriendi, die Kunst des Sterbens, sondern mindestens so heftig um die Ars vivendi, die Kunst des Lebens.

Literatur ist nicht nur das fertige Ergebnis, das vielleicht als Buch-Kunstwerk vorliegt, Literatur kann auch zu einer Lebensform werden sowohl für den Produzenten als auch für den Rezipienten.

Franz Dodel arbeitet seit über einem Jahrzehnt bereits an einer Vermessung der Welt, der eine einfache Regel zugrunde liegt: Jeden Tag schreiben, das Poetisierte in Zeilen zu fünf und sieben Silben fassen. So steht die Welt mittlerweile beim vierten Band, der den Titel Mikrologien (Kleinigkeiten) ausgefasst hat, mehr ein Ordnungsprinzip als eine Inhaltsangabe.

Einem Kunstwerk ist es natürlich egal, ob man sich davor verneigt oder nicht, zwischendurch muss man einem Kunstwerk einfach aus emotionalen Gründen sagen, dass es gelungen ist. Und das sagt man auch der Autorin.

Barbara Hundegger hat mit den Dante-reloaded-Gedichten ein perfektes Kunstwerk geschaffen, das im Kosmos der Literaturgeschichte voll verankert ist (Dante) und gleichzeitig die Gegenwart in einen zeitlosen Erkenntniszustand versetzt. Ja, so schaut das Jahr 2014 in Europa aus, daran kauen die Menschen, mit solchen Apps „wie der Mensch umdreht geht“ versuchen sie die Lage zu begreifen und auszuhalten.

Noch mehr als bei üblichen Buchtiteln kommt es bei Gedichtbänden darauf an, im Titel bereits jene Poesie auszuleuchten, die in den Gedichten später aufgesucht wird.

Renate Aichingers Wortkosmos „wundstill“ erweckt sofort Bilder, die ins lyrische Herz treffen. Vielleicht kommt nach dem Schreien der Verwundeten in Trakls Grodek jene Stille auf, die wundstill ist, vielleicht ist es das Kind, das sich verletzt hat und jetzt wundstill gemacht ist, vielleicht ist es die Wunde, die einen ein Leben lang schon quält, und jetzt in eine Stille eingetreten ist hinter dem Pochen.

Das Überraschende an Gedichten liegt knapp unter der Außenhaut der verwendeten Begriffe. Lyrik ist ja auch dazu da, Sprache auszuprobieren, einer extremen Laborsituation auszusetzen und erste Erfahrungswerte dieser getesteten Bedeutungen für den Alltagsbetrieb zu sammeln.

Isabella Breier stellt in der Konstellation „Anfang von etwas“ acht größere Versuchsanordnungen auf, in denen die Sprache unter dem Eindruck ausgewählter Sinnesorgane stimuliert wird bis zur Irritation der Anwenderin, die durchaus ein klassisches lyrisches Ich sein kann.

In der Literatur ist das Menschenfleisch unlösbar mit dem Rübezahl verknüpft, der in eine Hütte eindringt und die unsterblichen Worte ruft: Ich rieche, rieche Menschenfleisch!

Ähnlich abrupt tritt Dietmar Füssel in die diversen Szenarien menschlicher Schwächen ein und riecht die Situationen mit kalter Lyrik-Schnauze ab. In einer Mischung aus Auszählreim, Flegel-Gedicht oder Altherren-Spucke nimmt er die jeweiligen Situationen auf die Reimschaufel und macht schön geordnete Häufchen daraus.

Lyrik liefert nicht nur einen Inhalt, den man als Gedichte bezeichnen könnte, sondern auch eine Verfahrensweise, mit der sie sich Rückschlüssen zu entziehen versucht. Es gilt so etwas wie ein Informanten-Schutz und das lyrische Redaktionsgeheimnis.

Rudolf Kraus setzt seine Texte in die Klusen zwischen den Gattungen. Was in Ritzen eines lyrischen Geflechts entsprießt ist nicht Lyrik und nicht Epik, wie Beppo Beyerl im Vorwort feststellt, es sind Intarsien des ertappten Augenblicks.

Was bleibt an Nachbildern, wenn man schnell die Augen vor der Realität verschließt? - Es bleibt die Kindheit, der Acker, auf dem sich Pflanzen und Kinder tummeln, die Stube, die die Jahreszeiten hinaus sperrt, es bleiben zwei drei Schafe, die unvermittelt auf der Schreibtischplatte auftauchen.

Sepp Mall braucht wie ein genialer Musiker nur zwei drei Handgriffe, um mit  unverwechselbaren Riffs seine Lyrik zum Klingen zu bringen.

Halbsätze kommen den Lesern verführerisch entgegen, indem sie einladen, den Halbsatz zu vervollständigen nach Laune und Wissenstand.

Aurelia Seidl-Todt stellt so einen Halbsatz als Motto über ihren Gedichtband, „was so gut anfing“ zeigt schon das Lauernde, dass es vielleicht nicht gut ausgegangen ist oder dass schließlich etwas ganz anderes zum Vorschein gekommen ist.

Spuren dünnen immer wieder aus, verlaufen im Weiß des Sehfeldes oder ändern die Spurweite. In einem Gedichtband laufen diese Fährten sporadisch vor dem Leser ab, zwischendurch ist das Ziel sofort einsichtig, dann wieder verliert es sich, um vielleicht gar nicht mehr aufzutauchen.

U. Elisabeth Sarcletti setzt in vier lyrischen Bewegungen an, diese filigranen Abbilder von Fugen, Alltagsspänen und Empfindungspartikeln „auf die Reihe zu kriegen“. Den Kapiteln ist jeweils eine stilisierte Bild-Vignette beigesetzt, wo ein Netz selbständig an Land geht, ein Schleier sich zu einer Linie verkrümmt oder eine Frostvase zu einem Kelch ausblüht.