günter eichberger, weltverlustDie gängige Weltformel lautet: Wer Visionen hat, braucht einen Arzt. – In der Literatur freilich gilt die Formel auch umgekehrt: Wer auf einen Arzt wartet, kriegt Visionen. Günter Eichberger erzählt in heroisch-depressiver Form von einem, der auszieht, sich der Welt zu entledigen.

In der Bildung braucht es meist ein Initial-Erlebnis, das einem den berühmten Stoß gibt, etwas aus sich zu machen. (Beim Computer nennt man diesen Vorgang booten.) Tonnen von bürgerlichen Erziehungsromanen berichten davon, wie Helden ein Erweckungserlebnis haben, und in die Welt hinausziehen. Beim „Grünen Heinrich“ (Gottfried Keller) ist es die Mutter, die dem Kind die Koffer packt, beim „Taugenichts“ (Joseph von Eichendorff) hat eines Tages der Vater die Schnauze voll, und schickt den Sohn samt Geige weg von seiner Mühle.

christine hochgerner, nicht nur hasen schlagen hakenDie Biographien gewöhnlicher Menschen abseits von heroischen Lebensentwürfen gleichen meist haken-schlagenden Hasen. Dabei sind es die Gejagten selbst, die als Jagdträume hinter sich selbst her sind und sich dabei zu Tode hetzen.

Christine Hochgerner erzählt von diesen Hakenschlagenden Menschen aus der Sicht einer erhaben postierten Beobachterin. Die Erzählposition ist reflexiv in die Vergangenheit gerichtet, indem in straffen Plots die Heldinnen am Lebensende vorgestellt werden.

birgit birnbacher, wovon wir lebenSeit die vielgepriesene Arbeit selbst bei Arbeiterparteien ihren Stellenwert verloren hat, sinnieren immer mehr an den Rand der Gesellschaft gestülpte Menschen während ihrer Spaziergänge als Freigesetzte darüber nach, „wovon wir leben“.

In der Literatur wird das Thema Arbeit für jede Generation neu aufgerollt, wie sich ja auch die Arbeit stets neu einkleidet und den Menschen an den Hals wirft. Mit der sogenannten Literatur der Arbeitswelt übernahm im vorigen Jahrhundert die Literatur für kurze Zeit gar die Themenhoheit in der Politik, mit den Aktionen „Bitterfelder Weg“ (DDR) und „Grabe wo du stehst“ (BRD / AUT) wurde für kurze Zeit die Politik literarisch und die Literatur politisch – der Traum aller Germanisten.

martin wanko, eisenhagel 2 - die krahDie Genres „Krimi“ und „Provinzi“ gehen auf das gleiche Grundelement zurück. Sowohl der Kriminalroman als auch der Provinzroman sind als unendliche Geschichte angelegt, die bis zu einem Dutzend an Fällen oder Episoden verkraftet, ohne dass sich was ändert.

Martin G. Wanko macht sich abermals über „Eisenhagel“ her. Unter diesem Begriff ist ein kaputter Ort gemeint, aus dem Kohle und Eisen und wohl auch die Lebenslust abgehauen sind. Aber bei längerem Hineinlesen und Mitfiebern mit dem Ort stellt sich bald einmal heraus, dass es sich bei Eisenhagel um ein Lebensgefühl handelt, das einerseits als Musik mit der ganzen Welt in Verbindung steht und andererseits in den Verhältnissen und Beziehungen einen sehr mickrigen Mikrokosmos darstellt. Eisenhagel könnte man mit einem Seufzer beschreiben: „Jemand ist Eisenhagel-voll!“

thomas sautner, nur zwei alte männerBegonnen ist bald einmal etwas, aber die wahre Kunst zeigt sich beim Aufhören. Thomas Sautner lässt in seinem schelmisch leichten Altersroman zwei Künstler vor unseren Leseaugen ausgeistern. Wie im Märchen sitzen „nur zwei alte Männer“ in ihren zwei Villen in einer ruhigen Vorstadtgegend, alles ist ihnen zu groß geworden, Wohnung, Hosen, Gedanken.

Die beiden Helden treten sparsam auf wie für ein Kammerstück des Fade-out. Joseph Wasserstein hat als ehemaliger Starfotograf die Welt gesehen und beinahe ikonenhaft ins Bild gesetzt, der Nachbar Hakim Elvedin ist gefeierter Tänzer und lässt seinen Körper nur noch für sich und mit sich auftreten. Die Künste von Bild und Bewegung ziehen sich aus ihren Künstlerprotagonisten quasi zurück.

dimitri prigow, katja chinesischWie erzählt man ungeschoren in einem totalitären System? – Indem man Zeit, Ort und Handlung aus dem Text herausnimmt.

Dimitri Prigow relativiert als Vertreter des Konzeptualismus seine Kunst mit diversen Tricks und Taktiken. So ist das Genre „Eine fremde Erzählung“ etwas, was nichts mit ihm selbst zu tun hat, was ihm quasi selbst fremd ist, in einem fremden Land spielt, oder ihm von Fremden zugetragen worden ist. Seine Vorsichtsmaßnahmen gegenüber totalitären Systemen, die ihn ein Leben lang herausfordern, retteten ihn nicht immer vor behördlicher Nachstellung. 1986 wird er wegen einer Straßeninstallation in Moskau für ein paar Monate in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.

martin korte, frisch im kopf„Digitale Medien sind ein einzigartiges Phänomen, weil sie alle Aspekte unseres Lebens berühren: unsere Arbeit, unser Privatleben und wahrscheinlich sogar unsere Art zu denken und zu fühlen. Aber was machen sie mit unseren Gehirnen, vor allem mit denen Heranwachsender? Und vor allem: Welche Effekte haben digitale Medien – insbesondere Smartphones – auf unser Gehirn?“

Kaum eine technische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts hat das Alltagsleben der Menschen so verändert, wie die Entwicklung digitaler Medien, die mittlerweile in alle Bereiche der Gesellschaft eingedrungen sind von der Freizeit über die Schule bis hinein ins Arbeitsleben. Martin Korte zeigt auf, wie sich die Ausbreitung digitaler Medien auf die psychische und intellektuelle Entwicklung des Einzelnen sowie die Gesellschaft im Ganzen auswirkt und was bei der Nutzung digitaler Medien beachtet werden sollte.

simon konttas, der lauf aller dingeGedichte sind letztlich Vorschläge für Rituale, mit denen das Nicht-Messbare gemessen und das Nicht-Fixierbare eingefangen werden kann. Dabei wird „der Lauf der Dinge“ für Augenblicke als Andeutung einer Bewegung sichtbar, während diese Dinge schon wieder verschwunden sind.

Simon Konttas hat zum Einfangen der flüchtigen Dinge ein weißes Netz aus Papier gewählt, dieses wird durch die Zeit gezogen wie ein Filter für halb ausgestorbene Insekten, – und am Ende der Schreibbewegung sind vierundzwanzig Gedichte eingefangen und liegen auf dem Weiß als zappelnde Zeilen und Wort-Partikel.

franz kabelka, kubanische krokodileFür das große Tourismus-Spiel werden überall auf der Welt Revolutionen eingefroren wie Dornröschen und später in kleinen Dosen von flanierenden Touristen wachgeküsst. Politik und Konsum leben von Bildern im Netz, die uns Tag und Nacht Ausschau halten lassen, ob wir uns mit passenden Selfies mit irgendwelchen Ikonen dazugesellen könnten.

Für Franz Kabelka sind die Genres Krimi oder Thriller nur nebensächliche Gerüste, um eine Story im Buchhandel unterzubringen. Sein Hauptanliegen ist unterhaltsames Durchstreifen von Kulturen und Lebensmodellen, die wir nur mit Hilfe von Klischeebildern zu kennen glauben.

kirstin schwab, wir teilen unser ungleichgewichtIn schwärmerischen Naturbeschreibungen der Romantik wird öfters beschworen, dass es das Ungleiche ist, das in der Natur die Lebewesen zuerst von einander in Schach hält, ehe sich dann ein harmonischer Zustand einstellt. – Im politischen Diskurs hingegen gilt das Ungleichgewicht meist als Anlass, geeignete Maßnahmen zu setzen, und sei es nur, dass man sich wie Justitia die Augen verbindet. - In der Liebe hingegen brauchen diese Augen nicht verbunden zu werden, denn die Liebe macht ja von sich aus blind.

Kirstin Schwab kümmert sich in ihren Gedichten um dieses Ungleichgewicht, das die Seelen umgibt, manchmal als schwere Krise einer Lebensentscheidung, dann wieder als stilles Ungemach, das einen unerwartet beschleicht. Der Übergang der Befindlichkeit von poetischer Erregung in profane Erschlaffung ist fließend und funktioniert in beiden Richtungen.