Belletristik und Sachbücher

Karl-Markus Gauß: Der Alltag der Welt

h.schoenauer - 03.05.2016

Der Sinn des Lebens hat viel damit zu tun, wie das Individuum mit der Welt zurechtkommt. Dazu muss man freilich wissen, wie die Welt im Alltagsbetrieb so tickt.

Karl-Markus Gauß schreibt an und für sich Tag und Nacht die Lage der Welt als Individuum mit, alle paar Jahre verknüpft er das Leben eines Einzelnen mit der Flut von Nachrichten und Ereignissen. Der aktuelle Journal-Band „Der Alltag der Welt“ kümmert sich um plus minus 2012, als unverwechselbare Ereignisse tauchen Fukushima, Strauss-Kahn oder das Bettler-Problem auf. Die Kunst besteht nun nicht in der Aufzählung von Ereignissen, sondern in den schier unendlichen Verknüpfungsmöglichkeiten, so dass hintennach etwas wie eine Logik der Geschehnisse herauskommt.

Klaus Zierer, Hattie für gestresste Lehrer

andreas.markt-huter - 01.05.2016

„Die zentralen Ergebnisse, zu denen Hattie gekommen ist, sind in wesentlichen Teilen eigentlich banal. Aber genau darin liegt paradoxerweise der vielleicht wichtigste Beitrag seiner Arbeit: Er hat das Selbstverständliche mit solcher Wucht und so umfassend auf den Punkt gebracht, dass es künftig kaum noch möglich sein wird, die einfachen pädagogischen Wahrheiten länger zu ignorieren.“ (6)

Nirgends sonst prallen die unterschiedlichen ideologischen Positionen dermaßen heftig aufeinander wie im Bildungsbereich und auch die zahlreichen Schulreformen der letzten Jahre und Jahrzehnte spiegeln mehr die Ratlosigkeit und Hektik wieder, mit denen versucht wird, auf die Ergebnisse von internationalen Bildungsstudien zu reagieren. Der neuseeländische Pädagoge John Hattie zeigt in seiner Mammutstudie auf, was eine gute Schule und einen guten Unterricht ausmacht. Klaus Zierer fasst in seinem Buch die wesentlichen Kernbotschaften von Hatties Arbeit kurz und prägnant zusammen.

Stephan Denkendorf, Die Hutfabrik

h.schoenauer - 28.04.2016

So etwas gibt es nur in der Literatur: Einen glatten Titel, flach wie ein Parkplatz, und gleich aufregende Lebenspraktika wie das Abschneiden von Warzen mit dem Taschenmesser und dem Geruch von am Dachboden Erhängten des letzten Winters.

Stephan Denkendorf greift in seiner Erzählung „Die Hutfabrik“ in die Seelenkiste voller pastellfarbenen Blutes, er trägt die Sätze kurz und dick auf, um eine Aura zu beschreiben, die im Prospekt als „1900“ ausgerufen ist und sich dann bis fast in die jüngste Gegenwart hineinzieht.

Delphine Coulin, Samba für Frankreich

h.schoenauer - 26.04.2016

Warum tut sich das die Meeresschildkröte an, dass sie Tausende Kilometer schwimmt, um zu fressen, und dann wieder zurück hechelt, um die Eier für die nächste Generation in den Heimatsand zu vergraben?

Delphine Coulin lässt das große Thema Migration auf den Mali-Bürger Samba Cissé einprasseln. Er ist nach dem Tod seines Vaters mit einem frischen Matura-Zeugnis in der Tasche aus Mali fortgegangen, um ähnlich der Schildkröte für das Essen und Überleben seines Clans zu sorgen. Nach mehrmaligem Scheitern gelangt er seltsam hartnäckig nach Paris, wo er bei seinem Onkel Unterschlupf findet. Knapp zehn Jahre lang geht alles gut, ehe Samba mit seiner Gutgläubigkeit gegenüber der Behörde alles ins Wanken bringt.

Arno Camenisch, Hinter dem Bahnhof

h.schoenauer - 24.04.2016

Held dieses kleinen Kosmos hinter einem Graubündner Bahnhof ist eindeutig die Sprache. Alles, was zur Sprache kommt, klingt heimisch und exotisch zugleich.

Arno Camenisch erzählt aus der Sicht eines großen Kindes vom Jahresablauf in einem kleinen Dorf, das wie in der Schweiz üblich, durch die Eisenbahn stündlich Anschluss an die Welt hat. Hinter dem Bahnhof ist meist die Subkultur situiert, schräge Geschäfte, Nutten und Drogen werden in Großstädten hinter dem Bahnhof abgewickelt. Nicht so hier, ein paar Vaterlandsverteidiger nehmen ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum und fahren irgendwohin, um sich mit einer Übung in der generellen Motivation aufzufrischen.

Matthias Politycki, 42,195

h.schoenauer - 21.04.2016

Der echte Marathonlauf endet mit dem Tod. Der moderne Läufer rückt diesem möglichst nah an die Pelle und überwindet ihn. Freilich bleibt eine Todessehnsucht, sodass der Marathonläufer ständig neue Läufe in das Gelände setzen muss.

Matthias Politycki schreibt sich mit 42,192 die Kilometer einzeln vom Leib. Sein Essay ist in die Kilometer eines Marathonlaufs unterteilt und gibt in etwa wieder, was durch ein laufendes Hirn an Gedanken durchfließt, wenn die Versorgung mit Energie und Sauerstoff ans Limit kommt. Es handelt sich dabei um keinen Ratgeber, außer dem Rat, das Laufen als etwas Kluges zu begreifen.

Annette Großbongardt / Johannes Saltzwedel (Hg.), Leben im Mittelalter

andreas.markt-huter - 19.04.2016

„Will man sich aber dem Alltag der Menschen nähern, ist es nicht damit getan, das nach heutigen Maßstäben oftmals grausame und primitive Mittelalter vom abenteuerlichen-bunten zu unterscheiden. Dieser Band versucht deshalb, die historische Vielfalt durch den Blick auf typischen Lebensformen zu ordnen.“ (12)

Zu den typischen Lebensformen, denen jeweils ein Kapitel im Buch gewidmet ist, zählen das Leben der Mönche und des Klerus sowie die Bedeutung des Religiösen in seinen verschiedenen Facetten ebenso wie das Leben der verschiedenen Stände wie Bauern, Ritter und Adel oder von Bürgern und Intellektuellen.

Ada Zapperi Zucker, Über Frauen und andere Geschöpfe

h.schoenauer - 17.04.2016

Über Frauen und andere Geschöpfe lässt es sich nicht in einem Plot erzählen, sondern der Sound dieser Themen muss erarbeitet werden wie in einer Oper.

Ada Zapperi Zucker ist es als Opernsängerin gewöhnt, die Botschaft in zwei, drei Atemzügen auf die Bühne zu stellen. Im Falle der sieben Erzählungen über die „Frauen und andere Geschöpfe“, die naturgemäß erotisch und ironisch eingefärbt sind, gelingt dieser subtile semantische Hauch durch die Zwei-Achsigkeit der Sprache. Die Erzählungen sind links auf Italienisch geschrieben und sorgfältig übersetzt rechts auf Deutsch zu lesen, das Geheimnis der Stimmung besteht aber im Hin- und Herwechseln der Sprache. Denn die Kernbegriffe werden mit Umkreisungen herausgearbeitet, die Bedeutung ist nie fertig, manches lässt sich nur in einer Bewegung übersetzen und nicht als straffe Denotation.

Tobias Pamer, Blutballaden

h.schoenauer - 14.04.2016

Die Regionalgeschichte wirkt umso verlorener, je weiter zurück sie in der Dunkelheit liegt. Wenn eine Gegend nicht eine saftige Schlacht oder ein paar einäugige Helden aufweist, tut sie sich verdammt hart, eine unsterbliche Bedeutung für die Geschäfte der Gegenwart nachzuweisen.

Tobias Pamer nimmt in seinem historischen Roman „Blutballaden“ seine engere Heimat Tarrenz, Starkenberg und Imst ins sprichwörtliche Visier, denn in den Jahren rund um 1405 lugen nur noch die wenigsten Kämpfer unter der Ritterrüstung hervor.

Didi Drobna, Zwischen Schaumstoff

h.schoenauer - 14.04.2016

Im Idealfall schlägt eine bislang unbemerkte Literatur mit Wucht in der Lesercommunity ein und löst Neugierde, Freude und Diskussion aus. Durch die Aktion „Innsbruck liest“ ist heuer der bislang nur Insidern geläufige Roman „Zwischen Schaumstoff“ zu einem Kulturgut für die ganze Stadt geworden.

Im Roman von Didi Drobna geht es ungewöhnlich frech zu, denn die Heldinnen haben ihr Leben noch vor sich und wollen es anders gestalten, als man es ihnen mit diversen Tricks schmackhaft machen will. Die 16-jährige Lisa und die 7-jährige Daisy sind zu Beginn des Romans noch Teil einer Familienaufstellung, die sich aber schon nach den ersten Seiten als Fehlaufstellung erweist. Vater und Mutter schreien sich planlos durch den Haushalt, die Tante kann als Ärztin vermutlich nicht einmal Blutdruck messen und die Oma stirbt einen Sekundentod.