Buch-CoverManche Buchtitel schleichen sich wie ein Ohrwurm in den Kopf und man kann dann erst wieder geordnet weiter leben, wenn man das Buch gelesen hat. Der Titel des neuen Erzählbandes von Jürg Amann weckt natürlich Erinnerungen an den Film „Das Fenster zum Hof“ (Alfred Hitchcock, 1954). Und tatsächlich hat der verfilmte Schrecken im Hinterhof auch Eingang in den Suspense der Titelerzählung gefunden.

In Jürg Amanns Geschichte vom „Zimmer zum Hof“ steigt ein Kongressbesucher in einem billigen Quartier ab, wie eben sonst jeden Tag tausende Dichter in ihren Lesequartieren absteigen, wenn sie ihre Vortragstätigkeit beendet haben.

martynova, romSeit jener berühmten Ingeborg-Bachmann-Zeile „Böhmen liegt am Meer“ gilt das Verrutschen der Geographie als beliebtes Mittel der Lyrik, um schräge Gefühls- oder Erkenntnislagen auszudrücken.

Im Kombi-Band der beiden russischen Dichterinnen Olga Martynova und Jelena Schwarz steht Rom als Ort der lyrischen Kernspaltung im Mittelpunkt, aber die Auswirkungen dieser Fusion schlagen heftig nach Russland zurück.

Buch-CoverWas lässt uns freiwillig in ein Kino gehen, um dort einen Katastrophenfilm anzuschauen? – Wohl die Lust, etwas bislang Verborgenes über uns und unser Ticken in der Gesellschaft zu erfahren.

Der so genannte Katastrophenfilm zeigt recht genau den Zustand der jeweiligen Gesellschaft auf, denn angesichts der inszenierten Katastrophe laufen öffentliche und private Empfindungen nach einem verborgenen Muster der Solidarität ab. Unsere privaten Gefühle können wir in das Drehbuch schmuggeln und im allgemeinen Desaster reinigen und updaten lassen.

Buch-CoverMit halb gekniffenem Auge durchgeblättert wirken die Gedichte vorerst graphisch ruhig wie vor dem Sturm, und die Lithographien sind so etwas wie Gebrauchsanleitungen für dynamische Prozesse.

Manchmal gleichen diese Bilder einem Fax, dessen Übertragungsmodus mitten in der Sendung in einen andern Zustand gewechselt hat, einige Bilder sind Dünen der Gegenwart, die sich beim Anblick über das Blatt hinaus verschieben, andere Skizzen wiederum sind Reibspuren eines längst über die Zeichenfläche gestrichenen Windes.

Buch-Cover„Nein“ ist so das wichtigste Wort, das ein Kind während seiner Ersterziehung hört, kaum streckt es seine Finger irgendwohin aus, ruft schon jemand dieses penetrante Nein. Und später, wenn dieses Kind zu einem kaputten Erwachsenen geworden ist, sagt der Psychologe meist in der ersten Beratungsstunde: Sie müssen einfach lernen, nein zu sagen.

In Günter Eichbergers Nein geht es um ein literarisches Nein sagen, man muss während des Erzählens die Helden fallweise ausblenden, ihnen eine neue Erlebnisfläche schaffen und mit dem raffinierten Wort „nein“ eine ganz andere, nein völlig andere Richtung geben.

Buch-Cover„Diese Stadt hat nichts mehr zu verschenken. Es ist eine Stadt der Verluste. Es ist die Stadt der tausendundeinen Folterkammer. Stadt von Syphilis und Hooligans. Es wäre gut, sie dem Erdboden gleichzumachen. Wieder die dichten finnischen Wälder zu pflanzen, die es früher hier gab.“ (89/90)

Klar, diese Stadt kann nur Moskau sein, unregierbar längs zur Geschichte und quer zum Zeitgeist positioniert, anarchistisch üppig und dogmatisch kastriert, ein Unding, das letztlich nur eines produziert: Stoff und Stoff und Stoff für die Literatur.

Buch-CoverManchmal bestehen Romane aus einem signifikanten Stoff, der sich penetrant auf den Leser überträgt. In Norbert Gstreins Roman „O2“ etwa zischt der pure Sauerstoff der Ballonfahrt quer über den Text, in Kurt Leutgebs Roman „K2“ wird der undefinierbare Müll zu einem Megagebirge, das sich im Kopf des Lesers ablegt.

Johannes Gelich lässt in seinem Roman durchgehend Chlor austreten. Als Leser ist man schon bei der Nennung dieses Mediums geistig in einem Hallenbad und denkt an Chlorgasaustritte, Chlorgasvergiftungen und Chlorakne.

Buch-CoverWer eine schräge Wahrnehmung hat, kommt selbst auch in Schräglage. – Martin Suter ist der Spezialist für gestörte Wahrnehmungen. Ob es sich nun um die Krankheit Alzheimer (Small World) handelt, um einen formidablen Anschlag auf die Erinnerung (Ein perfekter Freund) oder um kleine Notlügen und Eintrübungen bei der wahrhaften Liebe (Lila, Lila), immer sind seine Figuren defekt, so dass sie das wahre Ausmaß ihrer Schräglage nur unzureichend wahrnehmen.

Im Roman „Der Teufel von Mailand“ gerät die Hauptfigur Sonia in einen LSD-Rausch und als sie aufwacht, hat sie ein verändertes Umfeldsensorium, sie leidet unter speziellen Formen der Synästhesie, kann Farben riechen, die Zeit schmecken und wird von Verschiebungen der Sinnesorgane heimgesucht.

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Die beste Methode, ein punktgenaues Zeitdokument zu einer bestimmten Staatsatmosphäre zu hinterlegen, ist, einen real leicht überhöhten Roman zu verfassen.

Ludwig Roman Fleischer schreibt jährlich einen Roman zur Lage Österreichs, für das Jahr 2006 ist der Realo-Hammer „Zurück zur Schule“ entstanden. Die Kunst des Österreich-Spezialisten besteht darin, dass seine Romane umso genauer werden, je depperter die Figuren ausfallen. Der aktuelle Zustand Österreichs zeigt sich dabei voll aufgespreizt und ausgeklappt wie der patriotische Brustkorb während einer Herzoperation.

In der Literatur kann alles zum Helden werden und eine Story auslösen. Dass aber das Farbspektrum selbst im Mittelpunkt von Erzählungen steht, ist ja fast schon ein Goethe’scher Ansatz, Goethe hat ja seine Farbenlehre als wichtiger eingeschätzt als seine Literatur.

Am besten beginnt man mit dem Abspann von Franz Kneissls Universum, Personen und Darsteller nach der RAL-Farbskala heißt es da, in 34 Zeilen sind jeweils vier ähnliche Farben aufgefädelt, die Geschichten auslösen. Diese RAL-Farbskala wird in der Industrie dazu verwendet, um Anstriche und Lacke zu normieren, so dass etwa ein Haus mit der bloßen Nennung der Nummer überall auf der Welt gleich eingefärbelt werden kann.