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willem elsschot, tschipSelbst ein Klassiker muss ununterbrochen gepflegt und gegen das Vergessen gebürstet werden. Aufwändig wird diese Pflege, wenn es dazu einer Übersetzung bedarf, die den Ansprüchen von Zeitgeist und Sprachentwicklung entspricht.

Die Leipziger Buchmesse 2024 mit dem Schwerpunkt Niederlande und belgisches Flandern lässt allenthalben die Frage hochkommen: Wer sind die großen Drei der belgischen Literatur? Die Antwort schickt einen sofort an die Regale, um diese zu durchkämmen auf der Suche nach Georges Simenon, Hugo Claus und Willem Elsschot.

„Tschip“ ist ein schmaler Klassiker der grotesken Unterhaltungsliteratur aus dem Jahre 1934. Ein gutsituierter Erzähler beschließt nach jeder Dienstreise hinaus in die weite Welt, zu Hause in Antwerpen sesshaft zu werden und sich für ewig in seinem Haus-Büro einzurichten. Als er sich wieder einmal zu Hause ausstreckt, wird er von einer seltsamen Störung des Hausfriedens heimgesucht.

franzobel, einwürfeLiteratur ist Fußball und Fußball ist Literatur. - Diese simple Gleichung, die seinerzeit der Wunder-Germanist Wendelin Schmidt-Dengler formuliert und über sämtliche Alltagsmedien verbreitet hat, ist Kern einer Theorie geworden, der sich eine ganze Generation von österreichischen Schriftstellernden verpflichtet fühlt. Plastischer Ausdruck dafür ist die Gründung des österreichischen Autorenfußballteams, das schreibend in professionellen Trikots auftritt und neben Autogrammen auch literarische Texte schreibt.

Franzobel ist in Theorie, Arbeitsleistung und Können wahrscheinlich der Spitzenmann dieser Doppelkultur Fußball-Literatur. Gekonnt nennt er seine Sportkolumnen „Einwürfe“ und bringt diese tatsächlich jeweils in den passenden Strafraum, der sich im konkreten Fall als Kulturseite der Kleinen Zeitung Graz erweist, von wo aus zum eleganten Torschuss angesetzt werden kann.

elisabeth wandeler-deck, antigone blässhuhn alphabet so nebenherLiteratur ist jene dünne Haut, die sich schützend zwischen Ordnung und Unordnung stellt. Ohne sie gäbe es weder das eine noch das andere, folglich nichts. Die Literatur erschafft somit die Welt, wie wir sie uns vorstellen.

Elisabeth Wandeler-Deck benützt ihre beruflichen Betätigungsfelder als Architektin, Soziologin und Gestaltsanalytikerin, um aus den jeweils fachlich gestützten Sichtweisen einen großen Text zusammenzustellen, der entlang der Kante von Ordnung und Unordnung aufgefädelt ist. Tragendes Element ist dabei das Alphabet, das freilich in einen Nebensatz gedrängt wird. In der Hauptsache geht es um Antigone Blässhuhn, und das Alphabet „geschieht“ nur so nebenher.

peter pessl, ah das gasthaus der wilderness!Selbst für Leseprofis sind Bücher manchmal vorerst verschlossen wie eine Nuss, man trägt sie als Krähe ein paarmal in die Luft, ehe sie dann aufgeht, wenn man sie richtig zu Boden fallen lässt. Andere nehmen den Text als Stein von Sisyphus und beginnen mit dem Rollen. Die dritten beginnen mit der Einbegleitung, in der letztlich alles drin steht, um in den Text eintreten zu dürfen.

Peter Pessl ist offensichtlich selbst überrascht, worauf er da stößt: „Ah, das Gasthaus der Wilderness!“ Dieses Stück Kultur in der Wildnis fordert den Besucher auf, die gewohnten Sehweisen zu verlassen und der Dramaturgie der vierzig Prosagedichte zu folgen, die gleich nach dem Eintritt auftauchen werden.

j. j. voskuil, die nachbarnTrabanten veredeln das Muttergestirn, indem sie unermüdlich darum herumkreisen. In der Literatur veredeln posthume Editionen oft das Hauptwerk, indem sie sich ungeniert als pfiffige Text-Trabanten ausgeben.

J. J. Voskuil ist in der Literaturgeschichte mit einem ungewöhnlichen Titel verankert: „Das Büro“. Darin altert ein Volkskundler vor den Augen der Leserschaft in seinem Büro für Wichtelmänner. Und nach Tausenden Seiten, sieben Bänden und vier Jahrzehnten erzählter Zeit merkt der Leser, dass er im gleichen Maße mit gealtert ist.

Im aktuell erschienenen Roman „Die Nachbarn“ kommt dieses Erzählkonzept abermals zum Zuge, dieses Mal geht es freilich um das Altern und das Verlöschen des Lebenskonzeptes „Ehe“. Herausgefordert wird die Ehe des Erzählers Maarten und seiner Frau Nicolien durch das schwule Paar Peer und Petrus, das als Horror einer Nachbarschaftsbeziehung an den Ehe-Alltag andockt.

nikolaus scheibner, ethik der künstlichen intelligenzWenn die Gedichte an die künstliche Intelligenz ausgelagert sind, bleibt dem Individuum nur mehr die Ethik, um sich bemerkbar zu machen. Aber was ist, wenn auch die Ethik der künstlichen Intelligenz untergeordnet wird?

Nikolaus Scheibner kämpft mit „echten“, „selbstgemachten“ Gedichten gegen die künstliche Intelligenz an, die er letztlich als Epoche der Menschheit empfindet, wie früher Stein oder Bronze den Evolutionsschüben der Menschheit einen Namen gegeben haben. Folglich sind die Gedichte auch in Zyklen eingereiht, die auf diese Epochen rekurrieren. Holz / Stein / Kupfer / Eisen / Plastik.

kurt leutgeb, kirchstettenKurt Leutgeb geht in seinem Roman „Kirchstetten“ davon aus, dass nichts eindeutig ist. Das beginnt schon mit dem Ort Kirchstetten, der dreimal rund um Wien vorkommt und ständig verwechselt wird. Damit diese Orte wenigstens historisch unverwechselbar werden, verpasst ihnen der Autor jeweils eine einmalige Geschichte.

Das Kirchstetten an der Westbahn, in das sich einst der Dichter Auden zurückgezogen hatte, hat dabei noch den direktesten Kontakt zur üblichen Geschichte. Der sowjetische Dichter Breschnjew aus Tschechowgrad wird 1972 über Nacht ausgebürgert und muss mit zwei Wodka-Flaschen das Land verlassen. In Wien sucht er letztlich Kontakt zur Literaturgeschichte und lässt sich, nachdem er alle falschen Kirchstetten besucht hat, im richtigen absetzen, wo Eden wohnt und seiner Homosexualität huldigt. In einem Gespräch reden die Dichter über die Figuren der Weltgeschichte, wobei Eden eigentlich nur wissen will, warum in Russland die Autofahrer die Scheibenwischer abnehmen, wenn sie parken.

simon konttas, ich war ein kleiner gottDie sensiblen Kunstformen Gedicht und Kurzgeschichten lassen sich in ihrer Halbwertszeit des Verfalls hinauszögern, wenn das Gedicht prosaische Züge trägt und die Kurzgeschichte psychologisch-poetische Tiefen aufsucht.

Simon Konttas treibt in seinen Texten Entscheidungen, Stimmungen oder Zustände auf die Spitze, dabei kommt es zu heilsamen Entladungen, einem Gewitterblitz nicht unähnlich. Für die Protagonisten ergibt sich daraus nicht unbedingt Erlösung, aber in therapeutischen Sitzungen mit sich selbst kommt es wenigstens zu einer Erleichterung des Problems.

drago jancar, als die welt entstandBeim großen Blick auf die Welt vergessen wir meist, ihre Entstehung zu beachten. Die Welt entsteht mit jedem Menschen neu und wird ihm spätestens mit der Pubertät über den Kopf gestülpt.

Drago Jančar baut für seinen verdeckt ermittelnden Geschichtsroman über das Slowenien der 1950er Jahre ein einfaches, aber umso wirksameres Erzählgerüst auf. Der pubertierende Danijel wird in einem Wohnblock in Maribor von Vater und Mutter nach einem seltsamen Schwarzweiß-System erzogen. Die Mutter repräsentiert das Religiöse und Vater das Partisanentum, der Junge freilich lernt durch Beobachtung und Erzählungen bei anderen Leuten. So zieht in Sichtweite im Parterre eine gewisse Lena ein, die ab und zu Männer empfängt, was zu diversen Gerüchten führt.

drago glamuzina, der zweite hauptsatz der thermodynamikUnterliegt die berüchtigte heiße Luft beim Diskutieren dem sogenannten thermodynamischen Gesetz? Dieser zweite Hauptsatz sagt im Volksmund ja nicht viel mehr, als dass die heiße Luft beim Reden immer gleich warm bleibt.

Drago Glamuzina nimmt für seinen Roman über eine kroatische Intellektuellenszene einen sehr aufgeblasenen Titel, weil es zum Wesen dieser Spezies gehört, aufgeblasen zu reden. Gleichzeitig dient das Zitieren des Wärmegesetzes als sogenannte Hirnschranke gegen allzu ungebildete Lektüre. Wer sich also auf diesen Roman einlässt, kann sich als halbwegs intellektuell fühlen, zumal sich der Titel mit einer KI recht schnell dechiffrieren lässt.